Nicht, was wir wissen, ist wichtig...wissen, dass wir nicht wissen, schon.
- Sabine Krippendorf
- Sep 5
- 4 min read

Wie finden wir uns zurecht in einer komplexen Welt?
Je mehr wir verstehen, desto deutlicher wird, dass wir über Zusammenhänge immer nur wissen können, dass es sie gibt, nie aber, wie sie im Detail beschaffen sind. Sie lassen sich nicht festhalten, weil sie in ständiger Entwicklung sind. Sie zeigen sich und entziehen sich wieder. Sie sind unverfügbar[^1]. Fakten kommen da immer zu spät. Sie beschreiben, wie etwas war, geworden ist, oder gerade noch ist. Für das, was kommt, helfen sie uns nur bedingt weiter. Fakten sind Vergangenheit, bestenfalls Gegenwart. In der Zukunft haben sie keinen Platz, oft stehen sie uns da im Weg und versperren den Blick auf das, was sein kann.
_Das, was sein kann, ist ja genau nicht das, was schon ist. _
Was hilft uns, wo Fakten zu kurz greifen, um erfolgreich in das Ungewisse namens Zukunft zu navigieren?
Zwei Perspektiven sind nützlich uns es lohnt sich, sie ein wenig einzuüben:
_1. Vertrauen_ in das, was wir -noch- nicht wissen.
_2. Eine Vision_, ein Bild davon, wer wir sein wollen und wo wir hin wollen. Ungefähr, das reicht. Der konkrete Weg entsteht dann, sobald wir ihn gehen.
«Holistic Trust» nennt Harry Gatterer, der Zukunftsforscher, das. «Vertrauen in den Prozess» sagen die Coaches. Im Yoga ist von der Weisheit jenseits des Wissens die Rede und meine eigene Haltung war schon lange bevor ich etwas von Zukunftsforschung, Coaching und Yoga wusste, das «Vertrauen ins Nicht-Wissen» und ich wurde nie müde, darüber zu diskutieren.
In diesem schier unendlichen Reich dessen, was wir nicht wissen, liegt der Stoff, aus dem die Zukunft ist. Wir dürfen darauf vertrauen, dass es dort Szenarien gibt, die wir uns nicht vorstellen können, bevor wir sie entdecken. So war es doch schon oft, oder?
「Aus meinem Leben mit M. A.
Wenn es mit meinen Strategien wieder einmal an Grenzen stosse, wenn nichts mehr funktioniert, wie es noch vor kurzem ging, finde ich immer wieder Trost im Vertrauen in das, was ich nicht weiss.
Dieses Motto, das mich schon mit dreissig prägte, beruhigte und motivierte, taucht nun, in meinem Leben mit Mr. A, ungefragt an jeder Ecke auf, oft mit etwas Bitterkeit und Auflehnung vermischt.
Die Spielregeln, die Mr. A vorgibt, sind nicht verhandelbar. Sie sind auch nicht greifbar, weil sie sich ständig ändern. Und so hilft mir das, was ich schon weiss, oft herzlich wenig. Zum Glück gibt es soviel, was ich noch nicht weiss. Dort muss ich suchen. Nicht in den eigenen Erfahrungen. Das ist auch heute noch beruhigend und motivierend. Ich hatte nur nicht damit gerechnet, dass ich diesen unerschöpfliche Schatz all dessen, was ich noch nicht weiss, einmal so dringend würde nötig haben, um mit dem, was ist, zurecht zu kommen. Wie auch sonst - es gibt ja keine Lösungen. Das Reich von Mr. A ist fortwährendes Niemandsland.」
Sehen wir es einmal so. Es gibt drei Arten von Wissen:
1. Das, was ich weiss.
2. Das, was ich nicht weiss und weiss, dass ich es nicht weiss.
3. Das, was ich nicht weiss und nicht weiss, dass ich es nicht weiss.
Diese dritte Art des Wissens halte ich für die spannendste: Ist es nicht beruhigend zu wissen, dass es noch so viel zu entdecken gibt? Sich nicht begnügen zu müssen mit dem, was schon ist, was wir schon kennen? Darauf vertrauen zu dürfen, dass in jedem Moment die nächste Überraschung möglich ist? Dass sich, solange es Leben gibt, immer neue Wege auftun?
Das ist das Schöne an dem, was wir Komplexität nennen. Wie schade wäre es, ihr den Raum zu verweigern, den sie braucht, um sich zu entfalten: zweckbefreit, ungewiss, spielerisch. Nur dem Lebendigen verpflichtet. Unverfügbar und reich.
Nicht einmal die Pandemie 2020 kam ohne positive Überraschungen zu uns: Ja, wir durchlebten Schrecken und Ängste. Gleichzeitig staunten wir, wozu wir fähig sind. Wie erfinderisch wir sind, wenn die selbstverständlichen Pfeiler unseres Soziallebens nicht mehr tragen.[^2]
Durch so komplexe Krisen wie eine Pandemie zu steuern, ist ein Balanceakt. Jonglieren mit verbundenen Augen. Denn das grösste Potenzial an neuen Lösungen steckt in der Unsicherheit, also in dem, was wir gerade noch nicht sehen. Was wir noch nicht entdeckt haben. Darum ist es so wichtig für alle, die Entscheidungen treffen, auch zugeben zu können:
#### Ich weiss es nicht.
Dieser simple Satz erweitert den Suchraum! Er sprengt die engen Grenzen deines bisherigen Erfahrungsschatzes, eröffnet neue Wege und ist der erste Schritt für Co-Kreation, also ein Miteinander auf Augenhöhe.
Wer Verantwortung trägt und nie sagt «Ich weiss es nicht», ist ein Risiko für sein System und den Kontext darum herum. Wir haben eine Welt gebaut, die so hoch vernetzt ist und so dynamisch, dass wir mit unserem eigenen Wissen niemals hinterherkommen. Es ist tendenziell dauernd veraltet, bei weiter sinkender Halbwertszeit. Immer häufiger kommt es vor, dass unsere Erfahrungen nicht mehr zur aktuellen Situation passen, weil sich zu schnell zu viel verändert.
Erfahrungswissen ist nicht per se wertvoll. Ob es noch zu gebrauchen ist, wird vom Tempo und der Intensität laufender Entwicklungen bestimmt.
#### Wie kann ich mich an dem, was ich noch gar nicht weiss, schon heute orientieren?
Oder andersherum: Woran kann ich mich orientieren, wenn nicht an dem, was ich weiss? Gleich hinter dem Bekenntnis «Ich weiss es nicht» lauern Ängste und Unsicherheit. Angesichts einer ungewissen Zukunft treten sie oft an die Stelle von Perspektiven. Wenn der Weg nach vorn bedrohlich erscheint ist es kein Wunder, wenn wir im dem, was hinter uns liegt, Sicherheit suchen. Da wissen wir wenigsten, was wir haben. Natürlich ist das zu wenig.
Was wirklich hilft, ist ein «big picture», eine Vision. Sie erzählt in vagen Worten die Geschichte, wohin die Reise gehen soll. Das gibt Kraft und Orientierung. Je mehr Beteiligte das gleiche Bild teilen, desto stärker wird es. Ängste und Unsicherheiten gibt es dann immer noch. Aber sie erhalten eine andere Rolle, sie schrumpfen zu Hindernissen auf dem Weg in die eigene Zukunft. Hindernisse kann man überwinden.
> «Wo chiemte mer hi
> wenn alli seite
> wo chiemte mer hi und
> niemer giengti
> für einisch z’luege
> wohi dass mer chiem
> we me gieng.» [^3]
[^1]: Hartmut Rosa
[^2]: Harry Gatterer vom Zukunftsinstitut spricht von den «sieben Techniken des Schwebens» und der «powerful uncertainty» im Umgang mit dieser Krise.
[^3]: Kurt Marti, hochdeutsch: «Wo kämen wir hin, wenn alle sagen würden, wo kämen wir hin. Und niemand würde gehen um zu sehen, wohin wir kommen würden, wenn wir gehen würden.»